T-Shirt Tage

Julia Weber

„Gefühle ohne Punkt und Komma, Bilder, Gedanken – gleich beim ersten Lesen wurde ich auf fast die gleiche Weise atemlos.“

(Helfried Graf von Lüttichau, Schauspieler und Lyriker)

Im Rahmen meines Jugendbuchs PIZZAREVOLUTIONEN – FÜR IMMER BIS DANN, das 2022 erscheinen soll, beschäftige ich mich seit diesem Jahr intensiv mit dem Thema Tod und Sterben. Im Dezember 2019 bin ich einer Mutter begegnet, die vor 14 Jahren ihre dreijährige Tochter auf Grund eines tragischen Kindergartenunfalls verloren hat. Der Verein Trauernder Eltern & Kinder, dem sie angehört, ließ mich auch gedanklich nicht mehr los.

In meinem Jugendbuch soll es um eine Freundschaft über den Tod hinaus und die Frage gehen: „Wie würde ich mich verhalten, wenn ich an meiner eigenen Beerdigung als Zuschauer:in teilnehmen könnte?“ Auch in meiner Kindergartengeschichte MAX MACHT MUT, die ich bereits im Jahre 2014 geschrieben, aber nach einem Klinikaufenthalt Anfang diesen Jahres noch einmal überarbeitet hatte, möchte ich mit Kindern über den Friedhof und das Sterben sprechen. Es lag also nahe, dass ich viele Bücher zum Thema gelesen, Podcasts gehört und mich mit Menschen über Menschen unterhalten habe, die nicht mehr am Leben sind.

Berufsgruppen, die etwas mit dem Tod zu tun haben, waren weitergehend Neuland für mich gewesen. Seelsorger:innen. Sterbebegleiter:innen. Bestatter:innen. Über den Podcast Liebe Nachbarn habe ich Julia Weber, ihr Buch und ihre Arbeit kennen gelernt. Sie hat 2019 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) auf einer Palliativstation in Mainz gemacht und kommt selbst aus der rheinland-pfälzischen Hauptstadt. Sie sei vorbelastet, was das Arbeiten auf einer Palliativstation angehe, sagt sie im Podcast. Ihr Vater arbeitet auf einer dieser besonderen (Krankenhaus)Stationen, deren Wände manchmal in einem Roséton gestrichen und mit einem Sternenhimmel-Badezimmer ausgestattet sind. Auf einer dieser Stationen, die krankheitsmildernde Möglichkeiten für ihre Patienten:innen anbieten, sie in den letzten Tagen, Wochen, Monate ihres Lebens begleiten und die für Außenstehende oft abschreckend wirken mag.

Das Schreiben sei schon immer Julias Medium gewesen: Was lag da näher, als die Zeit ihres FSJs und all die Begegnungen mit den Menschen, die aus dem Leben scheiden werden, in einem Tagebuch festzuhalten.

Klappentext

„Als ich das erste Gedicht las, musste ich zunächst einmal tief durchatmen.Und ich dachte, das ist die Art von Text, wie wir Palli-Aktiven sie dringend für eine effektive Öffentlichkeitsarbeit brauchen.“

(Dr. med. Thomas Sitte, Palliativmediziner)

Dieses Tagebuch hat sich dann zu dem Buch entwickelt, das ich hier vorliegen habe und das der Deutsche Palliativ Verlag herausgegeben hat.
27 Gedichte sind entstanden. 27 Gedichte voller (Mit)Gefühl, voller Tiefe, voller Ehrfurcht, aber immer auch mit einem beruhigenden Unterton und nicht selten saß ich mit einem Lächeln auf den Lippen über diesen Texten, obwohl sie mich so oft auch schlucken und schwermütig zurück ließen, mir aber stets mitten ins Herz sprachen. Mir lief nicht nur einmal eine Träne.

Weil die Texte so sehr ans Herz gehen und mich in den Verlust meiner eignen Lieblingsmenschen hinein versetzen. Ich bin so froh, dass diese wertvolle Arbeit, die der Sterbebegleitung, (andere) Menschen für mich übernehmen. Ich könnte es (vielleicht) nicht. Ich weiß es nicht. T-SHIRT-TAGE bringt mir das Thema auf jeden Fall sehr viel näher. So nah, wie der Stoff meines eigenen Oberteils, das gerade auf meinem Oberkörper ruht und über das ich mir gerade überhaupt keine Gedanken mache, warum ich es am Morgen gewählt habe.

Julia Weber, 1996 in Mainz geboren, absolvierte nach dem Abitur ein FSJ auf einer Palliativstation und studiert seit 2016 Humanmedizin in Mainz.

„Versteht mich nicht falsch… es gibt auch Tage, an denen ein Hund zu Besuch kommt dessen Fell man streichelt und in einen fließt die Wärme einer sehr großen Seele
und man ist auf einmal wieder jemand der berührt und nicht nur
jemand der berührt wird von glatten faltenlosen Handschuhhänden“

aus T-SHIRT-TAGE, ICH (III)

Julia nimmt jede (Lebens)Geschichte sehr ernst. Das merkt man in der Art, wie sie die Worte ihrer Gedichte, ihrer kleinen lyrischen (Sterbe)Geschichten gewählt hat. Ehrlich und unverziert sind sie, die Texte. 27 Gedichte, überwiegend für und über die Menschen, Männer wie Frauen, geschrieben, die auf besondere Weise durch Julias Worte am Leben erhalten werden, „nicht ganz tot zu kriegen“ sind. Auf diese Weise formt sie eine unsichtbare Skulptur, eine Erinnerung an den Menschen, dem sie das jeweilige Gedicht gewidmet ist. Die durch die Worte ein bisschen verewigt werden. Über ihren letzten Atemzug hinaus. Und das Sterben ist manchmal sehr sehr leise. Unaufgeregt. Anders, als wir es aus dem TV gewohnt sind. Sie sind allesamt betitelt mit datenschutzgerechten Familiennamen der verstorbenen Person. Frau K., Herr S., Frau W. Drei Gedichte gibt es, die Julias Innensicht präsentieren, die offenbaren, was sie selbst in ihrem Tagebuch verarbeiten musste.

Julia schafft es auf eine sehr besondere und vorsichtige Art und Weise, einen ungewöhnlichen Einblick in das Leben der Menschen zu geben, über die sie schreibt. An die sie mit ihren Texten erinnert. „Ohne Punkt und Komma lässt sie Bilder, Gedanken und Gefühle entstehen“, die die Palliativ-Patient:innen in ihrem gesamten Leben zeigen. Zumindest aber ein imaginäres Foto aus Lebzeiten schießen, das Frau K. und Herr S. mitten im Leben zeigt: Als Lehrerin. Als Mutter. Als Liebende:r. Lebendige:r Ohne Beatmungsgerät und mit noch weniger Gedanken über die Chemie des Weines oder die Zusammensetzung von Tränen aus ärztlicher Sicht.

Beeindruckt, aber nur mit mehrmaligem Durchatmen schaffe ich es, die Gedichte von Julia zu genießen. Texte, die mich nicht nur nachdenklich sondern auch dankbar hinterlassen. Dankbar über mein eigenes Leben, über meine körperliche und geistige Gesundheit und mit einem Gedankenspiel, das mir den Menschen über den Julia schreibt in einem würdevollen Moment zeichnet. Sehr angemessen. Sehr pietätvoll. Sehr aufschlussreich.

„Für mich war es immer schon Thema: Tod und Sterben.“ (…) Weil es real ist.“

Trotzdem rücken Tod und Sterben in ein seltsam getauchtes Licht und ich komme mir während des Lesens sehr sterblich vor. Was ich zweifelsohne bin, aber es fliegt als Gewissheit an, besonders im Bezug auf meine liebsten Nächsten, dass es mich fast ein bisschen aus meiner Blase holt. Einer Blase, die da sagt: das passiert nur den anderen. Nein, tut es nicht! Es entwickelt sich in meiner Haltung ein sehr ausgeprägtes Gefühl von „Was eigentlich wichtig ist“ und das tut auf eine eigenartige Weise sehr gut.

Julias Worte, in Gedichte geschlossen, sind nicht nur tröstlich. Sie schlagen vor allem eine Brücke zu den Verstorbenen, erinnern an die Zeit eines fremden Lebens, das ungewöhnlich nah und mir gar nicht mehr so fremd erscheint, weil ich es zulasse, und weil ich Parallelen erkenne. Auch ich will die BUDDENBROCKS unbedingt noch lesen, bevor ich sterbe. Das Buch und jedes einzelne Gedicht ist sicher ein würdevolles Erinnerungsgeschenk für die Hinterbliebenen. Denn was bleibt, wenn nicht die Erinnerung in unseren Herzen?! Vorüber ist nur das, was im Herzen keinen Platz mehr hat und es trifft mich, was mich (be)trifft. Ich mag Julias offene und unkomplizierte Art, für die Bilder, die sie mit ihren Worten zu einem „Tabuthema“ zeichnet und ich mag ihren Touch, mit dem sie den Gedichten eine Art Schwerelosigkeit verleiht.

Für ihre Gedichte und Kurzgeschichten erhielt sie 2015 den Hattinger Förderpreis für junge Literatur, 2016 wurde sie für den Literaturpreis Prenzlauer Berg nominiert, 2017 und 2018 war sie Jahresgewinnerin beim Bundeswettbewerb für junge Lyrik. 2018 wurde sie außerdem mit einem 1. Preis beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen ausgezeichnet.

In ihrem freiwilligen sozialen Jahr hat sie nicht nur viele Menschen beim Sterben begleitet, nein sie war dabei. Sie war bei ihnen. Hat Hände gehalten, Tränen getrocknet und Lippen befeuchtet. Die Schwere kehrt sich um, wenn sie beschreibt, dass auf einer Palliativstation sehr wohl auch gelacht wird. Dass es um das Lieblingsessen geht. Um Kindheits-erinnerungen an Mary Poppins und fliegende Regenschirme und der 48 Jahre alt gewordene Herr S. sich nur mit „ja-Wasser“ die Zähne putzt und dabei scherzt „nur das Beste, um den Krebs zu besiegen„. Die Realität holt einen natürlich wieder ein. Es geht auch um Schmerzen, um schlimme Schmerzen. Um Angst. Todeskampf und Körperreaktionen bevor das Herz für immer schweigt. Es geht um Menschen, wie du, wie ich, die sich nicht versöhnen können. Nicht mit dem Tod, nicht mit den Lebenden.

Es geht um so viel und eigentlich um das, was unser aller Weg ist. Julia Weber gelingt es, diesen Weg für uns in diesem Buch sichtbar und greifbar zu machen und sie schafft es, den Menschen, die bereits gestorben sind, einen „Nicht-vergessen-Werden“ Moment zu schenken, an dem wir teilhaben dürfen. Ja, manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste das Buch weglegen, mich kurz sammeln, um dann wieder in eine Welt abzutauchen, die aus dem besteht, was ich nicht greifen kann, oder will, obwohl ich werde. Wann mein Zeitpunkt gekommen ist, weiß ich nicht. Weil ich nichts von ihr weiß und nicht viel über sie. Weil ich mich nicht auf sie vorbereiten kann, so sehr ich es auch will. Auf meine Zeit zu gehen und meinen eigenen Tod.

Mit diesem Buch besteht die Möglichkeit eines Versuchs, in diese Welt einzudringen. Auf eine ganz umgängliche und seltsam tröstliche Art.

T-SHIRT-TAGE

„(…) einmal klingelte Frau B. und ich kam
in ihr Zimmer um sie zu fragen was
ihr denn fehle
sie saß im Rollstuhl vor ihrem Kleiderschrank der
geöffnet war eine Seite davon verdeckte ihr Gesicht
und sie sagte Tage um diese
T-Shirts zu tragen und sie zeigte auf
ihren Schoß in dem gestreifte karierte
unifarbene gepunktete T-Shirts lagen
ihr Gesicht erschien hinter der Schranktür
wenn Sie wüssten das wäre ihr letzter Tag
könnten Sie sich dann entscheiden welches
Sie tragen würden (…)“

Aus: T-SHIRT-TAGE, ICH (III)

Ob sie den Tod mit anderen Augen sehe, wird sie in der Podcastfolge „Liebe Nachbarn“ gefragt. Das könne sie nicht direkt beantworten. „Eine schwierige Frage. Für mich sind diese Menschen nicht ganz tot. Durch das Schreiben erinnere ich mich an sie.

Und mit diesem Buch, darf ich auch. Dafür danke ich Julia, denn dieses Buch ist ein gelungenes Werk mit dem nötigen Respekt gegenüber den Verstorbenen, ihren Hinterbliebenen und eine „gute Werbung“ für das Sterben und die Menschen, die es begleiten. Im Hospiz und sonst überall dort, wo Menschen anderen Menschen das Ende erleichtern.

Danke fürs Lesen und eure Aufmerksamkeit. Wie sehr berührt euch das Thema Tod und Sterben und würde euch das Buch interessieren?

Eure

Frau Türkis.


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